
Interview mit Christiane Wellnitz: Reden hilft
Einsamkeit kann ernste Folgen haben – Tipps für Eltern von einer erfahrenen Expertin
Viele Studien zeigen, dass Einsamkeit bei Kindern und Jugendlichen deutlich zugenommen hat. Das bestätigt auch die Therapeutin Christiane Wellnitz, Leiterin der Evang. Beratungsstelle für Erziehungs-, Jugend-, Partnerschafts- und Lebensfragen in Bonn. Wir hatten die Gelegenheit, mit ihr über die Erfahrungen im Umgang mit Einsamkeit zu sprechen.
Familienportal.NRW: Welche Erfahrungen machen Sie: Wie zeigt sich die Entwicklung der Einsamkeit in Ihrer Beratungsstelle?
Wir beobachten einen deutlichen Anstieg der Beratungsanfragen – sowohl von Jugendlichen als auch von Eltern. Auffällig ist, dass die Ratsuchenden immer jünger werden. Schon 11- und 12-Jährige suchen Hilfe. Auch der Anteil männlicher Ratsuchender hat zugenommen, während früher überwiegend Mädchen und junge Frauen unsere Beratung in Anspruch nahmen.

Mit welchen Anliegen und Sorgen wenden sich Menschen an die Beratungsstelle?
Eltern berichten, dass sich ihr Kind zunehmend zurückzieht, soziale Kontakte meidet oder Ängste entwickelt. Manche sorgen sich über schlechte Schulnoten oder weil ihr Kind den Schulbesuch verweigert. Auch die Zahl der Jugendlichen mit Depressionen, Suizidgedanken oder selbstverletzendem Verhalten steigt. Studierende kommen zu uns, weil sie den Druck des Studiums nicht bewältigen oder keine Perspektive für sich sehen. Oft stehen bei den Älteren Sinnfragen im Raum, weil sie wenige verlässliche Beziehungen haben und niemand da ist, mit denen sie über ihre Sorgen und Probleme sprechen können. Dabei steht in den Erstgesprächen das Gefühl der Einsamkeit oft gar nicht im Vordergrund – vielmehr sind es die Folgen, die Betroffene zu uns führen. Und da stellen wir fest, dass es oft die Coronanachwirkungen sind, die eben erst jetzt sichtbar werden.

Welche Auswirkungen hat die Coronapandemie auf junge Menschen?
Die Pandemie hat gerade Jugendliche in einer prägenden Entwicklungsphase getroffen. Wer damals mitten in der Pubertät steckte, hatte wenig Kontakt zu Gleichaltrigen, konnte sich nicht ausprobieren, keine altersgerechten Erfahrungen machen. Wer gerade sein Studium begann, hat die meiste Zeit online zuhause vor dem Laptop gehockt: keine Vorlesung, kein Austausch mit anderen Studierenden, wenig Kontakt nach außen. Und diese verpassten Erfahrungen lassen sich nicht einfach so nachholen. Es fehlt ein Stück Entwicklung. Viele haben den Zugang zu anderen verloren und kämpfen nun mit Unsicherheiten in sozialen Situationen.

Woran können Eltern erkennen, dass ihr Kind sich einsam fühlt?
Die Anzeichen sind natürlich individuell und auch nach Alter unterschiedlich. Jüngere Kinder haben zum Beispiel Schwierigkeiten, Freundschaften zu schließen, ziehen sich zurück oder wirken traurig. Kinder und Jugendliche klagen häufiger über körperliche Beschwerden wie zum Beispiel Kopfschmerzen oder Bauchschmerzen. Rückzug, plötzliche Aggressivität oder das Aufgeben von Hobbys kommen in der Pubertätsphase vor, können aber auch Warnsignale sein. In der Pubertät ist es allerdings schwieriger zu unterscheiden, ob es sich um „normale“ Entwicklungsphasen oder ernsthafte Probleme handelt.

Was raten Sie Eltern, wenn Sie Veränderungen im Verhalten beobachten?
Wichtig ist, dass Eltern aufmerksam sind und ihre Beobachtungen offen ansprechen: „Ich sehe, dass es dir nicht gut geht, das macht mir Sorgen“. Es geht gar nicht darum, sofort einen Rat zur Hand zu haben, sondern zu signalisieren: „Ich habe Verständnis dafür, erzähl mir von deinen Problemen. Du kannst jederzeit zu mir kommen, ich bin für dich da.“ Eltern sollten sich auch fragen, wie die familiäre Situation während der Pandemie war und sich ehrlich reflektieren, auch wenn das nicht immer leicht ist. Wer dies erkennt, kann gemeinsam mit dem Kind nach vorne schauen.

An welchem Punkt sollten Eltern professionelle Hilfe in Anspruch nehmen?
Sobald Eltern sich Sorgen machen, ist es sinnvoll, sich Rat zu holen. Ein erster Schritt kann sein, sich mit anderen Eltern auszutauschen. Mein Tipp: „Traut euch über die Dinge zu sprechen, die euch beschäftigen.“ Oft stellen Eltern dann fest, dass es in anderen Familien ähnliche Herausforderungen gibt und niemand mit dem Problem allein ist.
Ein anderer Weg ist, sich professionellen Rat zu suchen. Der ist immer eine gute Idee! Manchmal reicht ein einzelnes Gespräch, manchmal braucht es eine längere Begleitung. Unsere Beratung ist kostenlos, schnell zugänglich und kann anonym erfolgen. Die Kinder und Jugendlichen entscheiden selbst, ob sie die Unterstützung weiter in Anspruch nehmen möchten. Die Eltern müssen nicht involviert werden, wenn es nicht gewünscht wird.

Wenn sich Ratsuchende Jugendliche oder Eltern an Ihre Beratungsstelle wenden: Wie läuft eine Beratung ab?
Eltern oder Jugendliche können sich telefonisch oder per E-Mail anmelden und erhalten innerhalb von vier Wochen einen Termin – ein großer Vorteil gegenüber einer Psychotherapie beispielsweise, wo die Wartezeiten bis zu sechs Monate betragen können. Eltern dürfen ihr Kind zu einem ersten Termin ermutigen, danach entscheidet das Kind selbst über den weiteren Verlauf. Die Beratung ist vertraulich und unabhängig von den Eltern, wenn dies gewünscht wird. Wir geben nichts an Eltern weiter, was nicht vorher abgestimmt worden ist. Und auch wenn jemand die Beratung abbricht, sagen wir klar: „Du darfst jederzeit wiederkommen. Auch zu einem späteren Zeitpunkt.“

Über welchen Zeitraum erfolgt eine Beratung?
Die Dauer der Beratung ist abhängig vom individuellen Fall. Der Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung braucht Zeit. Deshalb legen wir Wert auf Konstanz. Wenn wir das Gefühl haben, dass der Jugendliche bei uns gut aufgehoben ist, kann er bzw. sie über einen längeren Zeitraum bei uns in der Beratung bleiben. Wenn es notwendig ist, vermitteln wir auch weiter in eine Klinik oder Tagesklinik. Dann überbrücken wir mit unserer Beratung die Wartezeit, bis ein Platz frei wird.

Wie können Eltern ihre Kinder stärken, um sie vor Einsamkeit zu schützen?
Dazu muss man sagen: Sich einsam oder allein zu fühlen ist nicht grundsätzlich negativ – sie kann eine wertvolle Erfahrung sein und zu kreativen Lösungen führen. Eltern können ihre Kinder nicht vor allem bewahren und beschützen, aber sie können aufmerksam bleiben, Veränderungen hinterfragen und Gesprächsbereitschaft signalisieren. Die Botschaft sollte lauten: „Ich stärke dir den Rücken, wenn es dir nicht gut geht.“ Entscheidend ist eine verlässliche Verbindung zwischen Eltern und Kind. Es geht nicht darum, etwas zu verhindern oder lösen zu müssen, sondern darum, im Austausch zu bleiben.

Betroffene sprechen ja oft nicht über ihre Einsamkeit, weil sie sich schämen oder es ihnen unangenehm ist. Wie engagieren Sie sich in der Prävention, um für das Thema Einsamkeit zu sensibilisieren?
Unsere Fachkräfte gehen aktiv auf Eltern und Kinder zu: durch Elternabende in Kitas, Beratungen in Familienzentren und Schulbesuche. Diese niedrigschwelligen Angebote erreichen viele Familien frühzeitig und helfen, Probleme früh abzufedern.

Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Unsere hilfreiches Präventionsangebot beginnt an einem frühen Zeitpunkt, stabilisiert Familien und hilft, schwerwiegende Probleme zu verhindern. Ganz gleich, um was es geht – Paarkonflikte, Erziehungsfragen oder Entwicklungskrisen – wir können mit unserem Beratungsangebot sehr viel auffangen. Daher wünsche ich mir, dass unser Angebot auf diesem Niveau aufrecht erhalten bleiben kann.

Welchen abschließenden Rat möchten Sie Eltern mit auf den Weg geben?
„Reden hilft: Nicht um den Kindern Erfahrungen abzunehmen, sondern um in Verbindung zu bleiben.“

Frau Wellnitz, vielen Dank für das Gespräch!
(Das Gespräch wurde 2025 geführt.)
Über Christiane Wellnitz
Christiane Wellnitz ist systemische Therapeutin und seit Juli 2024 Leiterin der Evangelischen Beratungsstelle in Bonn. Seit 1997 ist sie dort tätig und verfügt über umfangreiche Erfahrung in der Beratung von Familien, Paaren und Einzelpersonen. Ein besonderes Anliegen ist ihr die Förderung von Inklusion sowie die Anpassung der Beratungsangebote an aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen.
Evang. Beratungsstelle für Erziehungs-, Jugend-, Partnerschafts- und Lebensfragen
Adenauerallee 37
53113 Bonn
0228 6880150
www.beratungsstelle-bonn.ekir.de
Wo finden wir Hilfe und Beratung?
Sollten Sie Unterstützung oder Austausch suchen – über unseren Familienlotsen finden Sie passende Angebote in der Nähe Ihres Wohnortes.